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Entstanden im Rahmen des Seminars „Sex and Death“ von Dr. Eric Oberheim an der HU




Altruismus oder doch einfach nur Egoismus

von Peter Schaller


Bei Beobachtungen in der Tierwelt lassen sich überraschende Verhaltensweisen ausmachen. Es gibt Arten, bei denen einige ihrer Vertreter scheinbar ihre ureigensten Interessen dem Wohlergehen ihrer Artgenossen/anderer unterordnen. Dies kann soweit gehen, dass unter Umständen sogar der eigene Tod in Kauf genommen wird. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel, das auch in dem Buch Sex and Death1 beschrieben wird, ist das eines Bienenstaates, in dem die Wächterbienen den Bienenstaat unter Einsatz ihres eigenen Lebens beschützen. In diesem Essay werde ich darlegen, warum mir der Begriff Altruismus in Bezug auf das Verhalten von Tieren diskussionswürdig scheint. Zuerst werde ich versuchen den Begriff Altruismus allgemein zu definieren. Dann werde ich die Motivation einiger Tiere, für ihr, ihren eigenen Instinkten scheinbar widersprechendes Handeln, untersuchen, um dann zu überprüfen, ob sich dieses Handeln als Altruismus bezeichnen lässt. Dabei möchte ich dann noch einmal auf die in diesem Zusammenhang auftretenden verschiedenen Formen von Altruismus genauer eingehen.

Altruismus beschreibt die Fähigkeit, nicht nur im eigenen Interesse zu handeln, sondern eine Handlung auszuführen, die ausschliesslich dem Vorteil eines anderen Individuums dient und demzufolge selbstlos ist. Sobald jedoch ein reziproker Nutzen dieser Handlung erwartet oder angestrebt wird, kann man nicht mehr von der klassischen Bedeutung dieses Begriffs ausgehen. Häufig ist es als Beobachter jedoch schwierig, zu entscheiden ob eine Handlung gänzlich ohne Erwartungshaltung ausgeführt wird. Oft lässt sich bei genauerer Betrachtung ein zunächst verborgen gebliebenes nicht ganz so selbstloses Ziel entdecken.

Wenn wir uns jetzt wieder Beispielen aus der Tierwelt zuwenden wollen, möchte ich jetzt zunächst nicht auf die zu Anfang erwähnten Bienen zurückgreifen, sondern, da es mir einfacher gelagert scheint, das Beispiel eines Kuckuckskindes und seiner Gasteltern herausgreifen.

Das Bemerkenswerte an diesen Vögeln ist, dass Kuckucke die, von ihnen gelegten, Eier nicht selbst in einem eigenen Nest ausbrüten und die daraus geschlüpften Küken dann aufziehen, sondern dass sie die Eier in Nester von anderen, nicht zu ihrer Art zählenden Vögel legen, um diesen dann komplett die Aufzucht zu überlassen. Dieser Sachverhalt ist offensichtlich egoistischer Natur, da die Kuckuckseltern durch die Vermeidung von Nestbau und den Wegfall von Nahrungssuche zur Fütterung des Nachwuchses Kraft und Zeit sparen.

Demgegenüber stellt sich die Frage ob das Verhalten der Gasteltern, nun als altruistisch bezeichnet werden kann. In den meisten Fällen versorgen diese Vögel die Kuckuckskinder mit und machen keinen Unterschied zwischen diesen und ihren eigenen. Das Verhalten der fremden Küken gipfelt häufig darin, dass sie die echten Küken aus dem Nest werfen, vermutlich, um sich der Konkurrenz um Nahrung zu entledigen. Die plausibelste Erklärung dafür, dass die parasitierten Vögel häufig nichts gegen diese Gefahr für ihre eigene Nachkommenschaft unternehmen, ist jedoch, dass sie schlichtweg nicht dazu in der Lage sind, sowohl die Eier, als auch die Küken ihrer eigenen, von denen der fremden Art zu unterscheiden. Es mag somit in diesem speziellen Falle von evolutionärem Vorteil sein, alle Eier auszubrüten, anstatt eine Selektion vorzunehmen, bei der möglicherweise eigener Nachwuchs aus Versehen aussortiert wird. Die Vögel ziehen den fremden Nachwuchs nicht aus "Mitgefühl" auf, sondern aus Ermangelung der Fähigkeit die eigenen von den fremden Nachkommen zu unterscheiden. Somit lässt sich das Beispiel der Gasteltern eines Kuckucks mit ziemlicher Gewissheit als nur auf den allerersten Blick altruistisch bezeichnen.

Wollen wir uns nun einem anderen Beispiel zuwenden, nämlich dem, bereits zu Anfang erwähnten, des Bienenstaates und seiner Wächter. Wenn diese Wächterbienen einen Angreifer oder Eindringling stechen, verlieren sie bei dieser Verteidigungshandlung ihren Stachel. Das führt zu dem sicheren Tod dieser Bienen. Hier liegt wiederum die Vermutung nahe, dass es sich um altruistisches Verhalten handeln könnte. Durch das Opfern ihres eigenen Lebens bewahren sie ihre Artgenossen vor Angriffen von aussen. Wenn man nun als Lebensziel die Fortpflanzung unterstellt, muss bedacht werden, dass diese Wächterbienen keine eigene direkte Nachkommenschaft erzeugen können. Im Bienenstaat ist es nur der Königin vergönnt sich an einem einzigen Tag mit mehreren Drohnen zu paaren und sodann den für ihre restliche Lebensdauer benötigten Spermavorrat zu speichern. Somit sind von den zehntausenden Bienen eines Bienenstockes nur die Königin und einige der jährlich etwa tausend Drohnen direkt an der Erzeugung von Nachkommenschaft beteiligt. Auf den ersten Blick lässt sich nun keine Motivation für dieses uneigennützige Verhalten der nicht an der Reproduktion beteiligten Bienen erkennen. Wenn man jedoch Reproduktion in einem weiteren Sinne versteht, lassen sich hieraus andere Schlüsse ziehen. Die "selbstlosen" Bienen haben zwar keine direkten Nachkommen, aber sie stehen, da sie alle von der Königin abstammen, mit ihr in einem sehr engen Verwandschaftsverhältnis. Daraus lässt sich ableiten: "Having children is just one way to be causally responsible for making copies of your own genes. Another is by helping your relatives to reproduce." 2

Diese Auffassung ist durchaus einleuchtend. In Ermangelung der Fähigkeit eigene Nachkommen zu erzeugen unterstützen manche Tiere, wie eben diese Wächterbienen durch den Schutz des Nestes, ihre Verwandten bei der Fortpflanzung um dann über den Umweg der Verwandschaft die Weiterverbreitung ihres eigenen genetischen Materials sicherzustellen. Umso enger Lebewesen miteinander verwandt sind, umso ähnlicher ist nämlich im Allgemeinen auch ihr Erbmaterial. Diese Theorie wird als "kin selection" bezeichnet. Also lässt sich auch in diesem Beispiel den beschriebenen Tieren das Verfolgen eines ureigenen Interesses unterstellen. Sie handeln somit nicht selbstlos.

Bevor nun aber eine Aussage in Bezug auf die Einordnung des Verhaltens hinsichtlich des Altruismus getroffen werden kann, müssen wir den Begriff noch einmal genauer betrachten. Es existieren verschiedene Anwendungsformen des Begriffes Altruismus. Drei grobe Richtungen lassen sich unterscheiden. Als erstes wäre der reziproke Altruismus zu nennen. Hier handelt es sich um eine scheinbar selbstlose Handlung, die aber nur in Erwartung eines "zeitnahen Ausgleichs" geleistet wird. Mit dem Sprichwort "Eine Hand wäscht die andere." ist dieses Vorkommen, das manchmal auch als Pseudo-Altruismus tituliert wird, gut zu versinnbildlichen.

Bei der klassischen und "reinen" Form des Altruismus verzichtet das sich selbstlos verhaltende Individuum im Gegensatz dazu auf jegliche Gegenleistung. Sobald ein Motiv für eine scheinbar uneigennützige Handlung unterstellt werden kann, steht diese im Verdacht nicht der reinen Form zugehörig zu sein.

Als drittes Auftreten möchte ich nun den biologischen Altruismus aufführen. Die Grundlagen für diese Theorie hat Charles Darwin in seinem Buch The Descent of Man geschaffen. Er vermutete hinter einer "altruistischen" Handlung innerhalb einer Art etwas, das als Mitleid bezeichnet werden könnte. W. D. Hamilton hat diese Idee dann weiterentwickelt und kam zu dem Schluss, dass nicht Mitleid der treibende Faktor ist, sondern, dass die Weiterverbreitung der eigenen Gene auch durch die Unterstützung der verwandten Artgenossen, und somit auch indirekt erfolgen kann. Dadurch wäre dann ein klares Motiv für scheinbar selbstloses Verhalten innerhalb einer Art gefunden.

Das Phänomen unserer Wächterbienen lässt sich demzufolge dem biologischen Altruismus zuordnen.

Inwieweit eine solche Konstellation unter dem Begriff Altruismus geführt werden kann ist durchaus diskussionswürdig. Das Handlungsmotiv ist nur augenscheinlich nicht vorhanden und lässt sich ja bei genauerer Betrachtung doch wieder ausmachen. Ein selbstloses Verhalten ist also nicht gegeben. Dieses Problem mit dem Zusatz "biologischer" zu beheben, verwässert die ursprüngliche Vorstellung von Altruismus. Eine Erklärung für diese Begriffsbildung könnte sein, dass anfänglich wirklich von "reinem" Altruismus ausgegangen wurde um dann im Zuge neuer Erkenntnisse in der Evulotionsbiologie diese Namensbildung sozusagen als Korrektur vorzunehmen.

Wir haben nun also gesehen dass es bei Tieren Verhaltensweisen geben kann die uns an Altruismus denken lassen. Bei manchen lässt sich diese Vermutung widerlegen, bei anderen fällt dies schwerer. Ursprünglich wollte ich die These vertreten, dass mir die Anwendung des Begriffs Altruismus auf das Verhalten von Tieren nicht angemessen scheint. Ich habe meine These jedoch abgeschwächt, da es mir in dem begrenzten Rahmen eines Essays nicht möglich schien dies auszuführen.

Ich denke jedoch dass ich aufzeigen konnte, dass zwischen dem biologischen und dem ursprünglichen Altruismus nur eine sehr vage Beziehung besteht. Ich möchte nun mit einem Zitat des britischen Historikers Eduard Gibbon schließen, das noch einmal vor Augen führt, dass ein Verhalten nur dann als selbstlos gelten kann, wenn alle egoistischen Interessen ausgeschlossen werden können:"Man traue keinem erhabenen Motiv, wenn sich auch ein niedriger Beweggrund finden lässt."


1Kim Sterelny und Paul E. Griffiths, Sex and Death

2Kim Sterelny und Paul E. Griffiths, Sex and Death, S. 157